Mir brennt es unter den Fingernägeln Euch von meiner letzten Lektüre zu erzählen:
„Hagard“ von Lukas Bärfuss
Wir haben sicherlich auch alle schon gelesen, dass es sich hierbei um einen Nominée für den Preis der Leipziger Buchmesse handelt. Lukas Bärfuss ist als Preisträger nicht unerfahren. Seine Werke wurden bereits mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Mehr hierzu später.
Auszug Umschlagstext
„Philip folgt, aus einer Laune heraus, im Feierabendgedrängel einer Frau. Er kennt sie nicht, sieht sie auch nur von hinten, aber wie in einem Spiel sagt er sich: Geht sie dort entlang, lasse ich sie entschwinden; geht sie in die andere Richtung, spiele ich das Spiel noch eine kleine Weile weiter Es bedeutet scheinbar nichts, niemand kommt zu Schaden, un der Abstand ist so groß, daß die Frau es gar nicht bemerkt.[…]Warum beginnt er plötzlich seine Verpflichtungen zu verachlässigen? Was will er von ihr?“
Gedanken zum Verfolger
Mit diesem Umschlagstext hatte mich das Buch im Buchladen in seinem Bann, also nichts wie los und ein Rezensionsexemplar bestellt.
Was mich dann erwartete? Nun, zunächst ein Ich-Erzähler, der scheinbar allwissend über der angekündigten Hauptperson schwebt. Sorgenvoll ist sein Ton und mit vielen offengebliebenen Fragen leitet dieser die Geschichte um den Ausbruch Philips ein. Wir erwischen Philip anfangs in einer typischen Managersituation. Immer wieder mit seinem Smart Phone quercheckend und seine Assistenz konsultierend, bahnt er sich seinen Weg an einem Spätnachmittag zu einem nicht ganz unwichtigen Geschäftstermin.
Aus Randsätzen und im Verlauf der Beobachtungen rund um die Figur wird dem Leser die Wichtigkeit des Termins für einen satten Gewinn klar.
Wie nebenher eingestreut wird auch die Gesellschaftskritik und der auf dem Buchcover angekündigte „unbestechliche Blick“ des Autors auf seine Umgebung und das heutige Leben. So werden während des Wartens die um Philip herumhechtenden Heimkehrer und Feierabendmacher gnadenlos unter die Lupe genommen. Trennscharfe Sätze sortieren die Passanten in Schubladen, Philip oder zumindest unser allwissende Ich-Erzähler legen den Finger in jede sich unter dem Mäntelchen eines scheinbaren Alltagserfolgs erschliessende Wunde.
Hier die einsamen, langsam vor sich hin alternden Sekretärinnen und Angestellten, dort die noch naiv in die Zukunft blickenden Halbwüchsigen. An der Stelle musste ich schon mal schlucken. Aus welchem Recht heraus wird hier gestempelt? Einfach, weil es uns mit einer gewissen Befriedigung erfüllt mit dem Finger zu zeigen? Oder weil ein Tropfen Wahrheit der Aufrüttelung dienen soll? Leichte Zweifel an der Message des Buches hatte ich an dieser Stelle.
Einen Kommentar hierzu fandet Ihr auch schon in meinem Beitrag MittendrinMittwoch #2.
Wie dem auch sei, Philips Blick fängt sich in dem Moment auf einem Paar pflaumenlilaner Ballerinas. Das Kopfkino geht los. Die schlanken Fesseln und dezenten Details verleiten Philip seiner Fantasie und dem Jagdinstinkt freien Lauf zu lassen.
Das Spiel beginnt, Philip folgt der jungen Frau über eine Brücke und Uferstrasse zu einem Geschäft und der Spannungsbogen steigt weiter. Er lässt sich nicht beirren durch ihren Abstecher in das Pelzgeschäft. Vielmehr interpretiert er immer mehr Details in die Tatsache, dass die Frau einen Pelz aus dem Geschäft abgeholt hat. Sie wird immer mehr zu seinem persönlichen Rätsel, seinem Mysterium, welches er unbedingt lösen will.
Das muss man Lukas Bärfuss wirklich lassen. Seine ungewöhnlichen Vergleiche, Kopfkinobilder und vor allem das alles durchziehende stilistische Mittel der rhetorischen Frage schafft es den Leser wunderbar am Geschehen zu beteiligen. Ein winziges kleines Bisschen zu viel rhetorische Frage – aber gut, das ist eine Spitzfindigkeit meinerseits.
Und so lassen wir uns auch auf Philips Spiel ein, finden es amüsant.
Der Spannungsbogen nimmt neue Formen an in dem Moment als Philip allen Ernstes Kontaktversuche seiner Assistentin und auch die seiner – vorerst nicht weiter beschriebenen- privaten Verabredung sausen lässt, um der Verfolgten in einen abfahrenden Zug nachzuspringen.
Ohne Ticket und ohne das Ziel der Zugfahrt zu kennen schreckt er kurz auf, bleibt aber verbissen am Ball. Bis zu einer Wohnung in einer Vorstadt folgt er seinem Opfer und lässt auch hier nicht locker. Was ist los mit dem Mann? Folgen wir einem Stalker? Kommt es nun zu einem Eklat, einer Straftat sogar?
Der Stil des Buches findet seinen Widerhall in weiteren Fragen, die im Kopf des Lesers entstehen.
Letzte Details
Eines kann ich an der Stelle noch preisgeben, denke ich, ohne einen richtigen Spoiler. Philip entwickelt weitere Tricks, um seine Jagd auf gar keinen Fall abbrechen zu müssen, nur weil mittlerweile der Abend hereingebrochen ist und er ohne Jacke und ohne weiteren Plan irgendwo in der Vorstadtpampa steht.
Im letzten Drittel des Buches schwenkt die Handlung um, Philip driftet von einer Rückkehr in sein bürgerliches Managerdasein weiter ab und der Autor führt noch weitere Gestalten ein, die für einen Abschluß der Geschichte sorgen. Ich persönlich empfand die Einführung derselben als zu „hoppladihopp“, geradezu aus dem Zusammenhang gerissen und konnte zwar den geschickten Umschwung der Erzählerperspektive durchaus geniessen, die eigentliche Lösung des Rätsels jedoch nicht wirklich.
Fazit
Daher vergebe ich zwar für das in den Medien vielbesprochene Werk ebenfalls eine gute Bewertung möchte aber auf meiner Kritik beharren, ob sich denn da der Autor am Ende die Lösung einfach gemacht hat. Ist da die Abgabedeadline dazwischengegrätscht oder war eine Schreibblockade der Bösewicht? Oder langte ihm einfach die Message über die Zerbrechlichkeit unseres Daseins und wie schnell eine einzelne ungewöhnliche Entscheidung den Weg in den Wahn ebnen kann…?
Ich werde das wohl nicht erfahren, schade eigentlich… Da im Mai in Berlin eine Lesung des Autors stattfindet (Brechthaus), werde ich ggf. versuchen dort noch Antworten auf meine Fragen zu erhalten :-).
Auch die eingestreuten Gesellschaftskritiken hören im Verlauf der Geschichte weitgehend auf (oder sind mir nicht mehr ins Auge gesprungen…wer weiß…).
Stilistisch ist das Buch trotzdem ausgezeichnet und verdient die positive Bewertung diesbezüglich.
Autor & Verlag
Das Werk ist im Wallstein Verlag erschienen und auch direkt über diesen bestellbar, den direkten Link findet Ihr hier.
Meine Besprechung könnt Ihr natürlich auch auf LovelyBooks wiederfinden und auch auf Thalia, wo ich auch immer wieder meinen Senf zum Besten gebe (und nein, nicht gegen Geld).

Lukas Bärfuss/Bildcopyrights bei Frederic Meyer
Auf der Webpage von Lukas Bärfuss finden sich für diejenigen, die gern in eine weitere Fragerunde gehen möchten, zahlreiche Lesungsdaten des Autors, die Verweise auf alle anderen Werke und natürlich auch Hinweise zu Theateraufführungen derselben.
Auch wenn es dieses Jahr nicht für den Preis der Leiziger Buchmesse gereicht hat (wohl auch mit gewissem Grund), möchte ich noch auf andere Auszeichnungen des Autors hinweisen, wie den Nicolas-Born-Preis (2015) oder den Schweizer Buchpreis (2014).
Ich hoffe Euch mit meiner Rezension erfreut zu haben und freue mich von allen zu hören, die ebenfalls schon Berührung mit Lukas Bärfuss hatten, Eure Kasia.
Ein Gedanke zu “Geschichte eines Stalkings”