Regeln, soziale Kontrolle vs. Mensch

Spannend sich einen Autor zu erschliessen, über den man weder thematisch noch über Covergestaltung sonst jemals gestolpert wäre.

Das ist eine – kleine – Konsequenz meiner Franzobel-Lektüre. Alles um dieses Erlebnis herum war eine kleine erfreuliche Überraschung. Schon der Hinweis zum Buch war erfreulich, denn ich erhielt ihn von einem lieben Kollegen, dem ich jeden Tag gegenübersitze. Das Thema Lesen ist uns in unseren Unterhalten bislang entschlüpft. Nun, jener Kollege hatte ebenfalls Das Floß der Medusa gelesen und legte mir die Lektüre nahe als ich ihm von meiner Begeisterung über Juli Zeh erzählte. Von diesem Werk – Das Floß der Medusa – möchte ich Euch in diesem Beitrag berichten.

Floss der Medusa

Bildrechte/Coverrechte Zsolnay / Deuticke

 

Brauchen wir Menschen Struktur? Brauchen wir Regeln oder Gesetze? Wie steht es mit sozialer Kontrolle durch unsere Mitmenschen? Der Autor stellt durch seine Interpretation der Ereignisse rund um das Schiffsunglück der Medusa aus dem Jahre 1816 alle diese Fragen in provokanter Art und Weise.

Bevor ich die Geschehenisse für Euch umreisse, möchte ich jedoch die Sprache des Romans kommentieren. Seit „Schlafes Bruder“ ist mir eine solche Variante der deutschen Sprache nicht begegnet. Franzobel wählt eine Mischung aus zeitgemäßen Ausdrücken aus dem 19-ten Jahrhundert und durchbricht sie immer wieder mit Begriffen unserer Zeit sowie Ereignissen des 21-sten Jahrhunderts. Für mich hatte dieses Hin und Her auch den Effekt, dass ich eine vermutlich gesunde Distanz zu den grausamen Inhalten der Geschichte halten konnte. An der Stelle einen Daumen hoch für den Stil.

Das Drama

Nun zu den Fakten.

1816 erschloß sich Frankreich den Senegal von England zurück. Dies war für die französische Regierung der Anlass, vier Fregatten mit Infanteristen zum Schutze des überseeischen Besitzes sowie Verwaltungsbeamten und Forschern nach Afrika zu entsenden. Das Buchtitel gebende Schiff Medusa gehörte diesem Konvoi an. Von den annähernd 400 Personen an Bord des Schiffes lernen wir einige Kerncharaktere näher kennen. So befand sich auch der neue Gouverneur des Senegal, der Royalist Schmaltz mit seiner Familie an Bord. Ebenso der fortschrittliche Arzt Henri Savigny. Weder diese beiden, noch vorgestellte Matrosen, Schiffsjungen, Händler oder Forscher ahnten, dass das Kommando von einem Aufschneider und Betrüger Hugues Duroy de Chaumareys übernommen wurde. Dieser hatte sich über Beziehungen die ihn gänzlich überformdernde Position erschlichen.
Der Leser erlebt die erste Woche der Fahrt über die Sicht des naiven Schiffsjungen Victor, der des erwähnten Arztes oder auch einzelner Offiziere. Die Einblicke in die Gedankenwelt aller sind sich über eines schnell einig. Nämlich wie unfähig der Kommandant und seine Speichellecker sind. Die strengen Reglements des Militärs und des Seerechts halten potentielle Meuterer und Revolutionäre in Schach. Auch nach offensichtlichen, massiven Führungsfehlern – demotivierende, überzogene Strafen an Bord und erste Tote – zieht keine der agierenden Personen eine richtige Konsequenz.

Die Ignoranz, Charakterschwäche und Unwissen des Kapitäns sind es auch, die letztlich zu dem Auflaufen auf eine Sandbank mitten im Meer führen.

Ein Wiederfreikommen aus eigenen Ressourcen heraus misslingt, schwere Unwetter verschlimmern die Lage und schädigen das gestrandete Schiff weiter.

Die 400 Menschen an Bord passen natürlich auch nicht in die zu knapp bemessenen Rettungsboote. Es folgt die Entscheidung zum Floßbau aus dem Material der beschädigten Medusa und die Auswahl welche Passagiere in Boote und welche auf das Floss zu steigen haben.

Tödliche Dynamik oder der Mensch ist des Menschen Wolf

Welche Effekte ein „Wegsehen“ oder „keine weiteren verkomplizierenden Konsequenzen haben wollen“ im zwischenmenschlichen Verhalten hat, bekam ich als Leserin schon in den Erlebnissen des Schiffsjungen Victor auf „kleiner Skala“ vorgeführt. Massiv gequält und missbraucht vom Koch und dessen sadistischem Helfershelfer läuft er mit seinen Fairnessersuchen an jeder Front auf. Sei es in der direkten Konfrontation, sei es bei der Meldung an die Offiziere. Zufällig laufen ihm sanfte, intelligentere Helfer über den Weg und er kann sich über den Großteil der Geschichte retten.

Spätestens die unglaubliche Obrigkeitshörigkeit und Verantwortungsdiffusion angesichts evidenter Navigationsfehler, ließ mich eine gewisse Hoffnungslosigkeit beim Lesen spüren.
Immer wieder dieselben Charaktere schweigen zu den Fehlern – „bloß nicht auffallen und hoffentlich überleben“-Taktiker. Immer wieder dieselben Charaktere wagen eine offene Konfrontation des Katastrophenkapitäns oder gar einen Revolutionsversuch: Der erste Offizier versucht ihn vom ebenso vernunftsgeleiteten Arzt Savigny für unzurechnungsfähig zu erklären. Leider ohne Erfolg.
Savigny kann sich nicht von seiner Arztmoral trennen und sieht keine handfesten Hinweise für eine solche Diagnose. Mit fatalen Folgen. Kurz später laufen sie auf.

Wie hat uns also hier die Moral und Regelhörigkeit geholfen? Hätte der qualvolle Tod vieler hunderter Menschen an der Stelle verhindert werden können, wenn sich der Arzt von seinem Ethos entfernt hätte? Vielleicht beschimpft genau deshalb ein Überlebender ebendiesen Savigny als Monster gleich zu Beginn des Buchs… Mit dieser Vorrausschau der Ereignisse konnte ich anfangs nichts anfangen. Es entschloss sich mir nach dieser Stelle im Buch…

Als auch die letzten strukturierten Rausziehversuche des Schiffes scheitern und die Rettungsboote bestückt werden, kommt eine weitere Systematik unserer Welt zu ihrem bitteren Zuge. Die „Besseren“, „Höhergestellten“ besteigen die Boote. Der Verrat durch einen Einzelnen hindert die niedriggestellteren Matrosen und Hilfskräfte, die eigentlich in Überzahl sind, an einer Übernahme der Zuteilung. Sie enden auf dem Floss zusammen mit dem Arzt und dem Schiffsjungen. Ein letztes Aufbäumen einer Teamstruktur scheitert binnen weniger Minuten und wird gnadenlos gefolgt von der einzigen noch geltenden Regel: Dem Überleben des Stärkeren.

Über diese Regel lässt sich in dem Buch auch keine Wertung verhängen. Sie ist einfach da. Und sie ist logisch sowie nicht minder ernüchternd. Schliesslich sind die Beweggründe eines jeden Akteurs dem Leser so klar wie Kloßbrühe.

Fazit

Ein Buch, das einen zunächst verzweifeln lässt, dann nachdenklich und letztlich auch etwas dankbar macht. Dankbar für die Erfolge unserer Gesellschaft.

 

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